EU-Renaturierungsgesetz stürzt Österreich in Regierungskrise: Was steht da drin? (2024)

Einer der Pfeiler des Green Deal wurde trotz Bauernprotesten verabschiedet. Österreich wehrt sich weiterhin dagegen. Die Frage ist unter anderem: Wie schlecht ist «schlecht»?

Antonio Fumagalli

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Die Regierungskrise ist perfekt: Weil die grüne österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler am Montag dem sogenannten Renaturierungsgesetz der EU zugestimmt hatte, liefen die Koalitionspartner von der ÖVP Sturm. Sie wollen die Kollegin wegen Amtsmissbrauchs anzeigen und mit einer Nichtigkeitsklage an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gelangen.

Denn innerhalb der österreichischen Regierung und zwischen den Bundesländern herrscht kein Konsens über das neue Naturschutzgesetz. Die bürgerlichen Bündnispartner erachten Gewesslers Zustimmung entsprechend als rechtswidrig.

Doch was steht überhaupt in diesem Gesetz, das längst nicht nur in Österreich für Verwerfungen sorgt? Klar ist: Als wesentlicher Bestandteil des (mittlerweile zusammengestutzten) Green Deal ist das Projekt nicht nur inhaltlich, sondern auch politisch stark befrachtet – allein die medial begleitete Protestaktion von Greta Thunberg und ihren Mitstreitern vor dem EU-Parlament zeugt davon. So harmlos der Name des Gesetzes klingt, so weitreichend könnten dessen Auswirkungen sein.

«Reiner Zahlenpopulismus»

Die Zielvorgaben der Vorlage sind überaus ambitioniert und, je nach Standpunkt, schlicht nicht realisierbar. Bis 2030 müssen die EU-Staaten 30 Prozent der Lebensräume, die in «schlechtem Zustand» sind, naturnah wiederherstellen. Dies betrifft Wälder, Moore, Wiesen, aber auch Seen, Flüsse und Meere. Bis 2040 sind es 60 Prozent und bis 2050 gar 90 Prozent. Gemäss Angaben der EU sind derzeit über 80 Prozent aller Lebensräume in «schlechtem Zustand» – die Herausforderungen sind also gewaltig.

Allerdings ist nur schon die Frage, wie diese Bewertung gemacht wird, umstritten. Die Zahl stammt von der europäischen Umweltagentur, die sich auf die «Habitat-Richtlinie für geschützte Lebensräume» bezieht. Massgebend ist eine Reihe von Faktoren, etwa die Artenvielfalt oder die Bodenqualität. Wenn einer der Indikatoren negativ ist oder die Zukunftsperspektive düster ist, fällt die gesamte Bewertung «schlecht» aus.

Alexander Bernhuber, ein österreichischer EU-Parlamentarier der ÖVP, spricht von «reinem Zahlenpopulismus», der die Realitäten verkenne. «Wenn ich in meiner Brüsseler Wohnung das Fenster öffne, ist noch nie ein Insekt hineingeflogen. In der Heimat kann ich mich hingegen kaum dagegen wehren – obwohl dort der Lebensraum als ‹schlecht› gilt», sagt der Landwirt auf Anfrage.

Bauern setzten Ausnahmen durch

Es sind denn auch Agrarkreise, die sich im Verlauf der parlamentarischen Beratungen besonders gegen das Naturschutzgesetz aufgelehnt haben. Sie befürchten, dass dessen Umsetzung – für welche die Mitgliedsstaaten verantwortlich sind – die Versorgungssicherheit gefährdet und ihnen einen Teil der wirtschaftlichen Grundlage entzieht. Mit anderen Worten: dass sie grosse Anstrengungen unternehmen müssen, die nicht abgegolten werden – etwa für die Errichtung von Vegetationsstreifen oder die Reduktion der Verwendung von Düngern und Pestiziden.

Der einflussreiche Landwirtschaftsverband Copa-Cogeca versuchte im Zuge der europaweiten Bauernproteste das ganze Gesetz zu Fall bringen – was ihm nicht gelang. Allerdings beschloss das EU-Parlament eine ganze Reihe von Abschwächungen, im Sinne des Verbandes: So dürfen Landwirte nun nicht wie ursprünglich vorgesehen zur Wiedervernässung von ehemaligen Moor-Landschaften verpflichtet werden, obwohl diese grosse Mengen an Treibhausgasen freisetzen. Auch gelten Ausnahmen, wenn Ertragseinbrüche drohen.

Was bewirkt die Nichtigkeitsklage?

Die Befürworter des Renaturierungsgesetzes zweifeln deshalb daran, dass die ehrgeizigen Ziele so überhaupt erreicht werden können. Vor allem aber stellen sie ganz andere Berechnungen an – statt Kosten soll die Umsetzung ihrer Meinung nach grosse Einsparungen bringen. Für jeden eingesetzten Euro erhalte man zwischen 8 und 38 Euro zurück, schreibt die EU-Kommission. Dies unter anderem deshalb, weil sich die Bodenqualität und damit die Menge und die Qualität des Ertrags verbessere.

Mit der Zustimmung der EU-Umweltminister vom Montag ist das Gesetz eigentlich unter Dach und Fach. Danach hätten die Mitgliedsstaaten zwei Jahre Zeit, um Umsetzungsvorschläge zu präsentieren. Geht Österreich nun tatsächlich dagegen vor, wackelt dieser Fahrplan allerdings gewaltig. Das Kanzleramt hat nach der Veröffentlichung im Amtsblatt zwei Monate Zeit, um die angekündigte Nichtigkeitsklage einzureichen. Mit einem Urteil wäre ein bis zwei Jahre später zu rechnen. Eine Prognose ist kaum möglich – ein derartiger Fall ist auch den erfahrenen EuGH-Richtern noch nie begegnet.

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